Kann die Immobilienbranche die Umwelt retten?

NEW BUSINESS - NR. 10, OKTOBER 2022
Der Klimawandel erfordert auch von der Bau- und Immobilienwirtschaft einen grundlegenden Wandel. © Pexels/Pixabay

Ist es noch legitim, neu zu bauen? Hat das Eigenheim ausgedient? Der Philosoph Richard David Precht und renommierte Experten suchten im Rahmen einer Podiumsdiskussion nach Antworten.

Wer aktuell selbst baut oder kürzlich gebaut hat, weiß: Als eine Art Mikrokosmos spiegelt eine Baustelle eine Vielzahl der Krisen unserer Welt wider: Es kommt zum Baustopp, weil die Arbeiter aufgrund coronabedingter Reisebeschränkungen fehlen. Oder das einst hoffnungsfroh kalkulierte Baubudget ist nichts mehr weiter als eine flüchtige Zahl. Denn unterbrochene Lieferketten, Personal-, Ressourcen- und Materialmangel treiben die Baupreise kontinuierlich in schwindelerregende Höhen.

Nicht zu vergessen: die Inflation und Energieengpässe, die der Krieg in der Ukraine aktuell massiv weiter verschärft. Mit dem Spiegelbild, das die Klimakrise dem trauten Glück vom neuen Eigenheim vorhält, steht aber etwas sehr viel Grundsätzlicheres in Frage: Ist es überhaupt noch okay, neu zu bauen, immense Flächen auf der grünen Wiese zu versiegeln und dabei Unmengen graue Energie und damit CO2 in Kauf zu nehmen?

Ob die Immobilienbranche die Umwelt retten kann, sogar retten muss, darüber diskutierte der Philosoph Richard David Precht mit Susanne Eickermann-Riepe, Europachefin des Branchenverbands RICS, und Michael Bauer, Partner des Beratungsunternehmens Drees & Sommer SE.

„Das Konzept des Eigenheims ist als Symbol für Aufstieg, Sicherheit und Erfolg tief in unserer Gesellschaft verankert. Doch Klimawandel und digitale Transformation rütteln an solchen Grundfesten“, sagt David Precht. Zur Lösung der ökologischen Frage gilt es für Precht, zwei Wege zu verfolgen:

„Sicher müssen wir umwelttechnisch Fortschritte wie Geothermie oder Photovoltaik und vieles mehr vorantreiben, die sich auch langfristig ökonomisch rentieren werden. Auch die Digitalisierung trägt prinzipiell dazu bei, viel Energie und viele Ressourcen zu sparen. Die Betonung liegt aber auf prinzipiell. Gegenwärtig tut sie das noch viel zu wenig. Und so wird es ohne Verzicht zu üben, Verbote einzuführen, nicht gehen, auch wenn das außerordentlich schlecht zum Konzept unserer Marktwirtschaft passt. Nehmen wir den Klimawandel aber ernst, dann können wir nicht mehr so leben, nicht mehr so wohnen und nicht mehr so weiterwirtschaften wie bisher.“

Vom Mikro- zum Makrokosmos
Was im Kleinen und für den einzelnen Menschen gilt, das lässt sich in der Regel auch aufs große Ganze übertragen. Beim Energie- oder Mobilitätssektor wissen die meisten um deren klimaschädliche Auswirkungen. Nur wenigen ist bewusst: Die Bau- und Immobilienbranche ist für rund 35 Prozent des weltweiten Energie- und 50 Prozent des globalen Materialverbrauchs verantwortlich und verursacht je die Hälfte des anfallenden Mülls und der CO2-Emissionen.

Was passieren muss, dass sich die Branche vom klandestinen Klimakiller zum Umweltretter in spe wandelt, damit beschäftigt sich Susanne Eickermann-Riepe als Europavorsitzende des Branchenverbands RICS, dem weltweit führenden Berufsverband für Immobilienfachleute. Dort treibt sie die Ziele des Green Deals für die europäische Immobilienwirtschaft voran. Der von der Europäischen Kommission vorgelegte Plan sieht vor, bis 2050 die Netto-Treibhausgasemissionen in Europa auf null zu reduzieren.

„Mit einem mehr als zehnjährigen Immobilienboom im Rücken und einhergehenden Rekordergebnissen war es für die Branche bislang einfach zu bestehen“, so Susanne Eickermann-Riepe, die fast 20 Jahre als Partnerin bei PwC in Deutschland tätig war und das Real-Estate-Geschäft leitete. „Wer sich in der Vergangenheit in unserer Branche darauf verlassen hat, dass Sachwerte jede Krise überstehen, der wird durch die Folgen des Klimawandels und die Ansprüche einer neuen klimabewussten Generation eines Besseren belehrt werden“, ist Eickermann-Riepe überzeugt.

„Daher ist klar: Wer sich nicht selbst bewegt, der wird bewegt – durch Regulierung oder durch gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Druck. Vermietungs- oder Verkaufsverbote nichtnachhaltiger Gebäude, die wir in den Nachbarländern bereits sehen, sind hierfür nur ein Beispiel.“

Von der Gemengelage des Bau- und Immobiliensektors
Mitursächlich für das schleppende Vorankommen der Klimaziele im Gebäudesektor ist für Immobilienspezialistin Eickermann-Riepe, dass „die EU-Perspektive bis 2050, oder in Deutschland bis 2045, ein rasches Handeln blockiert.“ Doch nach ihrer Einschätzung gibt es zudem viel tiefer liegende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Zielkonflikte, die sich exemplarisch am Beispiel Wohnen zeigten.

Dringend benötigter Wohnraum soll bezahlbar sein – und außerdem ökologisch. Doch wer finanziert den Nachhaltigkeitsanspruch, der nicht umsonst zu haben ist? Und wie passt der Bau immer neuer Wohnungen mit der Knappheit von Ressourcen zusammen? Welchen Beitrag kann die Branche leisten?

„Wir müssen erkennen, dass es um mehr als Profit geht. Verantwortung ist kein Trend, sondern eine Haltung. Wir können einen wichtigen Beitrag leisten für die Menschen und den Planeten“, erklärt Susanne Eickermann-Riepe und ergänzt: „Es gibt bereits einige, die bereit sind, auf Rendite zu verzichten, Bestandsgebäude nachhaltig zu renovieren und Investitionen in Projekte mit sozialem Impact zu lenken, aber es müssen mehr werden.“

Kreisläufe statt Einbahnstraßen
Manche Investoren, Projektentwickler oder Vermieter denken um, das bestätigt auch Michael Bauer, Partner der Drees & Sommer SE. „Aber das sind noch zu wenige und das geht zu langsam. Die Anreizsysteme reichen bei Weitem nicht aus, um vor allem die Dekarbonisierung der Wärme beim Gebäudebestand zu schaffen. Derzeit wird in Europa nur eins von 100 Gebäuden energieeffizient renoviert, dabei sind europaweit um die 85 Prozent aller Gebäude in die Jahre gekommen. Das Einsparpotenzial fürs Klima ist also enorm.“

Seit dem Jahr 1999 entwickelt Bauer für Drees & Sommer innovative Energiekon­zepte, prominentes Beispiel: Das 2017 fertiggestellte Rathaus im Freiburger Stadtteil Stühlinger, das weltweit als erstes öffentliches Netto-Plusenergiegebäude gilt und 2018 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis erhielt. Es produziert Energie aus erneuerbaren Quellen wie Sonnenenergie oder Geothermie und deckt seinen eigenen Strombedarf durch Photovoltaik in der Fassade und auf dem Dach.

Doch für Bauer muss Umweltschutz über die Energieeffizienz, CO2-Einsparung und den Einsatz erneuerbarer Energien im Gebäudesektor hinausgehen. „Wollen wir, dass unser Planet nicht mehr an einem dünnen grünen Faden hängt, müssen ökonomische Einbahnstraßen ökologischen Kreisverkehren weichen. Auch im Bau- und Immobiliensektor ist der Materialkreislauf als Einbahnstraße ausgelegt. Metalle, Beton, Holz, Mineralien: Rohstoffe werden abgebaut, verarbeitet, verkauft, benutzt und schließlich entsorgt. Zwar wird ein Teil davon recycelt. Dabei bleibt jedoch meist die Qualität auf der Strecke.“

Blaupause fürs nachhaltige Bauen
Wie das anders funktionieren kann, das zeigt der Stuttgarter Veranstaltungsort Obere Waldplätze 12, kurz OWP12 genannt, in dem die Umweltdebatte stattfand. So weit wie nur möglich wurde das Plusenergiehaus kreislauffähig konzipiert und erzeugt mehr Energie, als es im Betrieb verbraucht. Zu Letzterem tragen eine neu entwickelte, hochdämmende Fassadenkonstruktion, Photovoltaikanlagen auf dem Dach und an der Südfassade, die Nutzung von Erdwärme über Geothermie-Bohrungen sowie eine Begrünung der Nordfassade bei.

Für die Kreislauffähigkeit, Schadstofffreiheit und einfache Demontierbarkeit des Gebäudes kam das sogenannte „Cradle-to-Cradle“-Prinzip, kurz C2C, zur Anwendung. So lassen sich Baumaterialien weitestgehend nach einem späteren Gebäudeabriss in hoher Qualität wiederverwerten oder in einen biologischen Kreislauf zurückführen. Auskunft über die verwendeten Materialien und deren chemische Beschaffenheit gibt ein sogenannter digitaler Ressourcenpass, wie ihn auch die deutsche Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag für Gebäude plant. Und so würdigten bereits der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper das innovative Drees-&-Sommer-Gebäude als Blaupause für klimafreundliches Bauen mit Strahlkraft für den gesamten Gebäudesektor. (BO)


ZUR PERSON
Richard David Precht
Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist, Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg sowie Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seine Bücher wie „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“ und „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ sind internationale Bestseller und wurden in insgesamt mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF, für die er 2013 mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie „Besondere Leistung“ ausgezeichnet wurde.
In seinen Publikationen und Vorträgen beschäftigt sich Richard David Precht seit vielen Jahren mit Fragen der Ethik. Was bedeuten Moral und Verantwortung in Zeiten globaler Krisen? Welche Auswirkung hat es, wenn wir unser Denken und Handeln nur mehr unter Gesichtspunkten der „instrumentellen Vernunft“ – oder, wie wir heute sagen, unter Aspekten der „Effizienz“ – bewerten? Wie müssen wir unsere Idee der „Bildung“ erneuern, da die digitale Revolution unsere Lebens- und Arbeitswelt radikal verändert? Abseits verstaubter und abstrakter Debatten eröffnet Richard David Precht mit seinen Vorträgen neue Blickwinkel auf die wichtigsten Themen, die unsere Wirtschaft, Politik und Gesellschaft derzeit bewegen.
www.referentenagentur-bertelsmann.de