Es ist Zeit, aus der Reihe zu tanzen.

NEW BUSINESS - NR. 6, JULI/AUGUST 2021
Es braucht Personen, die bewusst für Irritation, Ärger und Verwunderung sorgen. © Adobe Stock/master1305

Sie sind oft anstrengend, leisten Widerspruch und stellen so gut wie alles infrage. Rebellen sind keine einfachen Zeitgenossen und stehen auf der personellen Beliebtheitsskala nicht sehr weit oben ...

... Das sollte sich ändern, denn mit „Dienst nach Vorschrift“allein macht man keine großen Sprünge.

Medienberichte über vorgeworfene antisozia­le und delinquente Verhaltensweisen von Unternehmern sind keine Seltenheit. Da liegt es nahe, sich berechtigte Fragen zu stellen: Sind Unternehmer eine besonders eigennützige Spezies mit eigenen moralischen Vorstellungen und ethischen Prinzipien? Gibt es den unternehmerischen „Homo oeconomicus“ wirklich – einen Typus der zuallererst auf den eigenen Nutzen und Gewinn schaut und sich von ethischen und sozialen Prinzipien lossagt? Und wenn ja: Was macht ihn aus?
Diesen Fragen sind Psychologen der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) gemeinsam mit schwedischen Kollegen der Universität Stockholm nachgegangen. Bei ihrer Suche nach antisozialen Tendenzen in den Lebensläufen von Unternehmensgründern kam das Wissenschaftlerteam zu verblüffenden Ergebnissen.

Daten von 1.000 Kindern aus 40 Jahren
Für ihre Forschung haben die Psychologen eine schwedische Längsschnittstudie genutzt. In der Untersuchung „Individual Development and Adaptation“ wurden alle Sechstklässler eines Jahrgangs (ca. 1.000 Kinder) einer schwedischen Mittelstadt erfasst und über einen Zeitraum von 40 Jahren begleitet. „Wir haben diese Daten auf die Frage hin untersucht, wer von den Studien­teilnehmern später Unternehmergeist gezeigt und ein eigenes Unternehmen in der beruflichen Karriere gegründet hat und was diese Personen für ein Sozialverhalten an den Tag gelegt haben“, erklärt Martin Obschonka vom Center for Applied Developmental Science der Universität Jena. Dazu analysierten die Forscher umfangreiche Daten zu regelwidrigen Verhaltensweisen und Einstellungen der Probanden. Diese antisozialen Tendenzen bezogen sich sowohl auf die Jugend als auch das Erwachsenenalter und es wurden zudem umfangreiche Archivdaten zu polizeilich registrierten und sanktionierten Straftaten ausgewertet.

Antisoziale Tendenzen in den Lebensläufen der ­Unternehmer nachweisbar
Auf der einen Seite ließen sich in der Tat systematische antisoziale Tendenzen in den Lebensläufen der Unternehmer nachweisen. Unternehmensgründer zeigten im Vergleich zu anderen, die kein Unternehmen gründeten, verblüffende Wesenszüge. Die späteren Gründer hatten nämlich in ihrer Jugend eine deutlich höhere Tendenz zu regelwidrigem Verhalten in der Schule, zu Hause im Umgang mit ihren Eltern sowie in der Freizeit. „Doch die Studie zeigt eben auch noch eine andere Seite der Unternehmertypen“, so Obschonka. Als Erwachsene gab es hinsichtlich der antisozialen Tendenzen nämlich keine Unterschiede mehr zu den Nicht-Gründern. Zudem verweisen die Daten darauf, dass sich die frühen anti­sozialen Tendenzen bei den Gründern auf „geringere Vergehen“ beschränken. Die Analysen der polizeilichen Kriminalitätsdaten ergab nämlich, dass sich Unternehmer von anderen in Bezug auf behördlich geahndetes kriminelles Verhalten nicht signifikant unterschieden – weder in der Jugend noch im Erwachsenenalter. „Die Daten sprechen dafür, dass im Durchschnitt die Unternehmer keine kriminelleren Karrieren haben als die Nicht-Gründer“, erläutert Obschonka. „Ebenso zeigte sich kein Unterschied in antisozialen Einstellungen“.

Unternehmensgründer zeigen Nähe zu ­Nonkonformismus und Mut zur Rebellion
Der Drang zu regelwidrigem Verhalten sei in der Jugend allerdings deutlich vorhanden. „Daraus folge jedoch nicht die Konsequenz, dass im Erwachsenenalter noch immer notorisch Regeln gebrochen und antisoziales Verhalten an den Tag gelegt werden müsse“, sagt Martin Obschonka. Somit entsprechen die gefundenen Verhaltensweisen von Unternehmensgründern eher nicht dem gängigen Vorurteil: „Es wird oft behauptet, dass sie von der Persönlichkeit her eher antisozial und nur auf ihren eigenen Nutzen bedacht sind“, beschreibt der Jenaer Psychologe die Klischees. Für Unternehmensgründer ist es entscheidend, Innovation und Visionen zu verwirklichen. Um diese ungewöhnlichen und risikobehafteten Wege gehen zu können, gibt es oft eine Nähe zu Nonkonformismus. Dieser Mut zum Ungewöhnlichen und zum Neuen könnte seine Entwicklungsvorläufer im regelwidrigen Verhalten in der Jugend haben. „Wie die Daten nahelegen, führt ein rebellierendes Verhalten gegen gesellschaftlich akzeptierte Normen in der Jugend und ein frühes Infragestellen von Grenzen nicht unbedingt zu kriminellen und antisozialen Karrieren, sondern kann durchaus die Grundlage für späteren produktiven und sozial verträglichen Unternehmergeist sein“, so Obschonka. Eine Risikoneigung, die sich schon in der Jugend zeigt, spiele dabei eine wichtige Rolle für die späteren Entwicklungen.

Rebellische Wege aus der Krise
Die Historie hat uns gezeigt: Die großen Meilensteine der Gesellschaft wären ohne Rebellen nie geschehen. Das Frauenwahlrecht oder das Ende der Apartheid zum Beispiel. Allerorts gingen Menschen als treibende Kräfte voran, setzten sich leidenschaftlich und mit vollem Einsatz über Konventionen und Normen hinweg – und riskierten dabei sogar ihr Leben. Auch im unternehmerischen Kontext gehen Freigeister oftmals große Risiken ein, um mit unkonventionellen Methoden und Maßnahmen ihre Existenzen zu retten, wie z. B. der brasilianische Unternehmer Ricardo Semler. Als Semco S/A, das Maschinenunternehmen seines Vaters, in den 1980er-Jahren immer tiefer in die Krise zu schlittern drohte, riss er das Steuer herum, indem er alle Regeln und Konventionen über Bord warf. Unter seiner Leitung wurden unnötige Sitzungen, überflüssige Vorschriften und sogar Managementpositionen abgeschafft. Den Angestellten wurden hingegen neue Freiheiten ermöglicht. Sie durften selbst über ihre Arbeitszeit sowie ihren Lohn entscheiden. Das Ergebnis: In den Jahren 1990 bis 1996 stieg der Umsatz des Unternehmens von 35 Millionen auf 100 Millionen US-Dollar. Die Maßnahmen, die zuvor unvorstellbar gewesen waren, katapultierten das angeschlagene Unternehmen nicht nur aus der Krise, sondern machten Ricardo Semler und sein „Semco System – Management ohne Manager“ zum „Lateinamerikanischen Geschäftsmann des Jahres 1990“.

Aktiv mitgestalten statt reagieren
„Unternehmen sind heute angesichts des steigenden Veränderungs- und Digitalisierungsdrucks gefordert, bisherige Prozesse und Geschäftsmodelle von Grund auf infrage zu stellen – um nicht nur zu adaptieren und zu reagieren, sondern auch die Zukunft mitzugestalten. Nach dem Motto ‚It’s better to disrupt yourself than to be disrupted‘ benötigt eine erfolgversprechende Innovationskultur zuallererst Menschen, die Glaubens-, Denk- und Verhaltensmuster aufbrechen“, ist auch Barbara Stöttinger, Dekanin der WU Executive Academy überzeugt. Aus diesem Grund haben Markus Platzer, „provokativer“ Coach für Führungskräfte, Andersdenker und Trainer, und Fred Luks, Ökonom und Experte für Transformation, CSR und Sustainability, gemeinsam mit der WU Executive Academy das Kurzprogramm „Awaken your inner rebel“ entwickelt, um Managern und Führungskräften dabei zu helfen, den Rebellen in ihnen zu erwecken. Die beiden sind auch selbst in ihrer Karriere rebellisch in Konzernen unterwegs gewesen. Heute beraten sie Unternehmen und Führungskräfte dabei, Veränderung zu begrüßen, dafür passende Rahmenbedingungen zu schaffen und dadurch Innovation möglich zu machen.

Wann unternehmerisches Rebellentum funktioniert
Rebellen sind per Definition Menschen, die Regeln und Autoritäten hinterfragen, herausfordern und bewusst umgehen. „Dringend notwendige Veränderung ist in Unternehmen nicht immer positiv besetzt und wird oft mit diversen Mitteln verhindert“, sagt Markus Platzer. „Es braucht Personen, die bewusst für Irritation, Ärger und Verwunderung sorgen – Dinge tun, die sich andere nicht trauen, und dadurch auch tatsächlich grundlegende Veränderung in Gang bringen. Sich über Ideen nett auszutauschen, ist in der Regel zu wenig.“
Allerdings ist es mit Offenheit in Unternehmen nicht getan: „Eine offene Unternehmenskultur ist die Voraussetzung für Innovation, sie alleine reicht aber nicht. Es braucht Leute, die mutig sind, vorangehen und Dinge ausprobieren, die andere nicht tun würden“, so Fred Luks. Umgekehrt würden Rebellen in einem sehr starren System ohne Offenheit keine Chance haben: „In solchen Kulturen beißen sie sich die Zähne aus“, so Luks.
Zum Rebellentum gehört der gepflegte Regelbruch – natürlich im legalen Rahmen. „Ohne Rebellen, die nicht Regeln gebrochen hätten, würden wir noch auf Bäumen sitzen“, sagt Luks. Man muss aber nicht unbedingt die formellen Regeln im Unternehmen brechen, um ein Rebell zu sein: „Es gibt genügend ungeschriebene Regeln, die Veränderung verhindern“, so Luks. Rebellen bräuchten für ihr aufrührerisches Tagwerk allerdings Durchhaltevermögen, „ein hohes Energielevel und eine starke intrinsische Motivation“, sagt Platzer.
Auch er hält den strategischen Regelbruch für legitim: „Gerade in großen Organisationen muss man innerhalb der Regeln spielen und Allianzen schmieden, aber was ich stark feststelle: Unfassbar viel Zeit wird für politische Spielchen unproduktiv vergeudet. Bei wem positioniere ich welche Themen in geeigneter Form? Wer spricht diese Themen an, welches Sicherheitsnetz müssen wir vorab bauen und wen dürfen wir keinesfalls verärgern? Man stelle sich vor, all diese Zeit würde tatsächlich produktiv eingesetzt werden – welchen Wettbewerbsvorteil könnten Unternehmen gegenüber ihren Mitbewerbern generieren? Es ist Zeit für radikale Offenheit, um nicht immer mit großen Augen gen Silicon Valley schauen zu müssen.“ (BO)


„How-to-be-a-rebel-Guide“
So überzeugen Sie erfolgreich als Rebell:in
Langer Atem: Prüfen Sie sich selbst auf Ihren eigenen Antrieb. Wie ­wichtig ist Ihnen Ihre Idee? Welche Vision haben Sie dazu? Seien Sie sich bewusst, dass Sie einen langen Atem für diverse Diskussionen benötigen. 
Strategische Vorgehensweise: Sie wollen eine andersartige Idee durchsetzen? Dann ­unterlegen Sie diese faktenbasiert und mit (Kenn-) Zahlen. Überzeugen Sie in einer äußeren Form, die den Entscheidungsträgern bekannt ist. 
Gemeinsam sind wir stark: Suchen Sie sich Sparringpartner und schmieden Sie ­Allianzen mit Mitstreitern für Ihre Idee. 
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt: Fragen Sie nicht lange um Erlaubnis, sondern starten Sie einfach im Kleinen los: in Ihrem Team, im Rahmen Ihrer Möglichkeiten. Experimentieren Sie, probieren Sie aus, adaptieren Sie bei Bedarf. Ist die Umsetzung Ihrer Idee von Erfolg gekrönt, berichten Sie davon und überzeugen andere Führungskräfte, es Ihnen gleichzutun. Seien Sie da ruhig etwas naiv, was Regeln betrifft – oder tun Sie zumindest so. Entschuldigen Sie sich im Nachhinein.
If you can’t convice them, confuse them: Sorgen Sie für Irritation, wo es nötig ist. 
Die „Königsidee“: Wenn es die einzige Möglichkeit ist, um Ihr Ziel zu ­erreichen: Hängen Sie den Erfolg am Ende Ihrem ­Vorgesetzten um. Das ist zwar old school, aber besser 
als keine Veränderung.


INFO-BOX
Meiste Rebell:innen in der IT/Telekom-Branche
Mit 70 % der Unternehmen, die angeben, „Rebellinnen“ und „Rebellen“ in ihren Reihen zu haben, liegt der IT- und Telekom-Sektor am deutlichsten über dem Gesamtdurchschnitt von 59 %. An zweiter Stelle liegt das Sozial- und Gesundheitswesen mit 66 %. Im Vergleich sind im Finanzwesen in 53 % der Unternehmen diese Mitarbeitenden unterdurchschnittlich vertreten.
(Quelle: Hernstein Management Report)